Die Sage des einsamen Wolfes

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne warfen lange Schatten über die Wiese. Die Schafe, die sich mit einem letzten müden „Määh“ niedergelegt hatten, schienen sich in die friedliche Umarmung der Dämmerung zu begeben. Im angrenzenden Kiefernwald jedoch hatte die Nacht bereits die Oberhand gewonnen.

Ashe stupste ihre jungen Welpen sanft mit der Nase an, verabschiedete sich leise und schlich durch die Bäume zum Waldrand. Ihr Rudel wartete bereits. Sie beobachteten die Schafherde, die sich nur wenige Schritte entfernt unter einem Ahornbaum zusammengedrängt hatte. Mit einem leisen Knurren gab Ashe das Zeichen. Lautlos teilte sich das Rudel auf. Als die Schafe die Gefahr realisierten, stoben sie in alle Richtungen auseinander. Panisches Blöken erfüllte die Luft, doch es dauerte nicht lange, bis die Wiese wieder in eine unheimliche Stille gehüllt war. Die Jagd war erfolgreich.

Doch die Freude währte nicht lange. Eine unheimliche Krankheit schlich sich ins Rudel. Einer nach dem anderen fiel ihr zum Opfer. Ashe tat ihr Bestes, ihre Jungen mit Fleisch und Milch zu versorgen, doch es war nicht genug. Eines Morgens, als die Sonne gerade das Morgengrauen durchbrach, fand sie ihre Welpen – kalt und reglos. Ihr Herz brach. Ashe war nun allein.

Von Trauer erfüllt, wanderte sie ziellos durch den Wald. Obwohl der Frühling längst Einzug gehalten hatte und die Tage wärmer wurden, fühlte sie nichts als die Kälte des Winters in ihrem Herzen. Ihr Körper war abgemagert, ihre einst kraftvollen Pfoten schleppten sich träge durch den weichen Waldboden. Der Hunger trieb sie schließlich zurück zur Schafherde.

Erschöpft und mit einem Schaf im Maul kehrte Ashe in die Heide zurück. Doch der Triumph der Jagd brachte ihr keine Freude. Sie fühlte sich elend und einsamer denn je. Inmitten ihrer Verzweiflung hatte sie plötzlich einen seltsamen Gedanken. Langsam und vorsichtig, beinahe andächtig, zog sie das weiche, wollige Fell des erlegten Schafes über ihren Rücken. Das fremde Gefühl des Fells auf ihrer Haut war unangenehm, doch sie trottete gebückt zurück zur Herde.

Tage vergingen, und Ashe lebte unentdeckt unter den Schafen. Zum ersten Mal seit Langem war sie nicht mehr allein. Sie genoss die trügerische Sicherheit der Gemeinschaf.

Eines Abends, als die blaue Stunde den Himmel verzauberte, geschah etwas merkwürdiges. Ein riesiges Objekt senkte sich aus dem Himmel herab, seine blendenden Scheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit, und ein unnatürlicher Wind tobte über die Wiese. Die Schafe gerieten in Panik, trampelten wild durcheinander, doch ehe Ashe reagieren konnte, wurde auch sie erfasst. Die Welt um sie herum verschwamm in einem Wirbel aus Lärm und Bewegung.

Als Ashe wieder zu sich kam, befand sie sich in einem kleinen, viereckigen Raum. Um sie herum lagen sechs Schafe. Ashe spürte, wie ihre Urinstinkte erwachten und sie die Angst der Schafe riechen konnte. Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. Mit einem grossen Sprung warf sie sich auf eines der Schafe und verlor dabei ihre Tarnung. Um sie herum breitete sich eine Blutlache aus und die Wolle der blökenden, rennenden Schafe färbte sich dunkelrot.